SpracheLiteraturMusikGlaube


Buchbesprechung

J. Dominik Harjung:
Die genaueste und zuverlässigste deutsche Bibel
Woran erkennt man eine gute Bibelübersetzung?
Berneck (Schwengeler) 1996
415 Seiten. ISBN 3-85666-379-7. EUR 15,30

Auf die Frage, welches die genaueste und zuverlässigste deutsche Bibelübersetzung sei, würden viele Christen wahrscheinlich antworten: die Elberfelder Bibel. Manche würden sogar sagen: Die Elberfelder Bibel ist die einzige zuverlässige deutsche Bibelübersetzung. Und in der Tat hat diese Ausgabe der Bibel ja besonders in den Kreisen der „Brüderbewegung“ seit ihrem Erscheinen eine nahezu unangefochtene Monopolstellung inne. J. Dominik Harjung wagt es, diese Monopolstellung anzugreifen. Sein Buch, nach Titel und Inhaltsverzeichnis eine Einführung in die Übersetzungswissenschaft, ist in Wirklichkeit ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Elberfelder Bibel, oder genauer: gegen den Typus der wörtlichen bzw. „formal genauen“ Übersetzung, wie ihn die Elberfelder Bibel beispielhaft verkörpert. Harjung zeigt an zahlreichen Beispielen auf, dass diese Übersetzungsmethode durch ihre Anlehnung an die Form des Grundtextes immer wieder zu der deutschen Sprache fremden und daher kaum verständlichen oder missverständlichen Formulierungen führt, sodass eine künstliche Bibelsprache entsteht, die zwar denjenigen Lesern, die durch langjährige Benutzung an sie gewöhnt sind, überhaupt nicht mehr als ungebräuchlich auffällt, auf neue oder junge Leser jedoch langweilig und damit abschreckend wirkt. Im Gegensatz dazu plädiert der Verfasser (im Anschluss an die Arbeiten E. A. Nidas) für eine „lebendig-gleichwertige“ Übersetzungsweise, die dem heutigen Leser in klarer, verständlicher Gegenwartssprache das zu sagen versucht, was der Grundtext dem damaligen Leser in dessen Sprache zu sagen hatte. Veranschaulicht wird dies an einer Reihe überzeugender Beispiele aus Harjungs eigener Feder: Jedem Zitat aus der Elberfelder Bibel wird eine eigene Musterübersetzung gegenübergestellt.

An manchen Stellen schießt der Autor freilich über sein Ziel hinaus: Nicht immer ist die Elberfelder Übersetzung so unverständlich, wie er uns glauben machen will; zum einen erleichtert der Zusammenhang oft das Verständnis, zum anderen sollten auch die intellektuellen Fähigkeiten des Lesers nicht allzu gering veranschlagt werden. Dieser Gefahr erliegt Harjung leider des Öfteren; hinzu kommt eine Tendenz, das eigene Sprachgefühl zum Standard zu erheben und so bestimmte Formulierungen, die keinerlei Auffälligkeiten zeigen, als unverständlich, unpassend oder gar als falsch zu klassifizieren. Durch die Fixierung auf die Elberfelder Bibel kommen zudem die übrigen deutschen Übersetzungen zu kurz: Es gibt nur wenige Übersetzungsvergleiche, viele Bibelausgaben – darunter auch die Lutherbibel – werden nur am Rande erwähnt. Eine eindeutige Empfehlung, welche Version nun die genaueste und zuverlässigste sei, spricht der Autor ebenfalls nicht aus; gelobt werden allerdings die Übersetzungen von Albrecht, Bruns, Menge und Wilckens, die Einheitsübersetzung, die Gute Nachricht, die Jerusalemer Bibel und die Neue Genfer Übersetzung. Schon diese Aufzählung macht deutlich, dass für Harjung der theologische Standort einer Übersetzung offenbar sekundär ist – protestantische, katholische, ökumenische, pietistische und evangelikale, bibelkritische und bibeltreue stehen hier ohne Unterschied nebeneinander. Gerade im Falle von „lebendig-gleichwertigen“ Übersetzungen ist jedoch der theologische Hintergrund von entscheidender Bedeutung, denn je freier ein Übersetzer mit dem Wortlaut des Grundtextes umgeht, umso stärker können eigene Interpretationen in die Übersetzung einfließen; eine „formal genaue“ Übersetzung dagegen kann, auch wenn völlige Objektivität wohl niemals erreicht wird, subjektive Auffassungen so weit wie möglich zurückdrängen.

Trotz all dieser Einwände ist die Lektüre von Harjungs Buch insgesamt ein Gewinn: Der Autor protestiert mit Recht gegen ein Monopol und einen Ausschließlichkeitsanspruch, der so weit gehen kann, dass die Elberfelder Bibel allein als Wort Gottes oder sogar (unbewusst?) als dem Grundtext gleichwertig betrachtet wird, und er plädiert für eine Übersetzungsvielfalt, in der die Elberfelder Bibel ihren Platz als Studienbibel neben anderen, mehr auf Verständlichkeit angelegten und daher auch für die Evangeliumsverkündigung geeigneteren Übersetzungen einnimmt. Insofern handelt es sich hier um ein wichtiges und notwendiges, bei aller Einseitigkeit doch faszinierendes, zudem äußerst kurzweilig geschriebenes Buch, dem eine weite Verbreitung gerade in den Kreisen der „Brüderbewegung“ zu wünschen ist.

Michael Schneider

[zuerst in: fest und treu 1/1997, S. 23; leicht überarbeitet]


© 1997 by Michael Schneider • Letzte Änderung: Donnerstag, 7. April 2016